Aktuelle Entwicklungen im europäischen Sozialversicherungsrecht zu grenzüberschreitender Telearbeit – multilaterale europäische Rahmenausnahmevereinbarung trat mit 1. Juli 2023 in Kraft
Die Ausübung einer grenzüberschreitenden Telearbeit kann zu einem oftmals unerwünschten Wechsel der sozialversicherungsrechtlichen Zuständigkeit vom Ansässigkeitsstaat des Arbeitgebers in den Wohnortstaat des Arbeitnehmers führen. Nachdem Österreich zur Gewährleistung eines vereinfachten Verfahrens zur Erteilung von Ausnahmen zuletzt bilaterale Rahmenvereinbarungen mit Deutschland, Tschechien und der Slowakei abgeschlossen hat, trat nunmehr am 1. Juli 2023 eine multilaterale europäische Rahmenausnahmevereinbarung in Kraft, wonach es auf Antrag bei weniger als 50 % Homeoffice-Tätigkeit zu keiner Änderung der sozialversicherungsrechtlichen Zuordnung kommt.
Grundregelung nach der VO (EG) 883/2004
Ein Grundprinzip der für den EU-/EWR-Raum und die Schweiz relevanten VO (EG) 883/2004 (Europäische Sozialversicherungsrechtliche Koordinierungsverordnung) ist, dass eine Person stets nur dem Sozialversicherungsrecht eines Staates unterliegt. Dieses anzuwendende Recht wird für grenzüberschreitend tätige Arbeitnehmer durch besondere Kollisionsnormen geregelt. Im Zusammenhang mit grenzüberschreitenden Homeoffice-Tätigkeiten bzw Teleworking hat insbesondere die sog „Multi-State Worker“-Koordinierungsregelung für Arbeitnehmer, die laufend alternierend in verschiedenen Mitgliedsstaaten tätig sind, Relevanz.
Demnach sind solche Arbeitnehmer im Wohnsitzstaat pflichtversichert, wenn sie dort einen wesentlichen Teil (mind 25 %) ihrer Tätigkeit ausüben. Für Dienstnehmer, die ihre Tätigkeit von Österreich in den ausländischen Wohnortstaat verlagern, wechselt daher die Sozialversicherungszuordnung grundsätzlich von Österreich zum ausländischen Wohnsitzstaat, sobald sie 25 % ihrer Tätigkeit im Homeoffice ausüben. Art 16 der VO (EG) ermöglicht es, in diesem Fall die ausnahmsweise (Weiter-)Anwendung des bisherigen Sozialversicherungsrechts zu beantragen. Rahmenvereinbarungen sollen diesbezüglich ein vereinfachtes Verfahren ermöglichen.
Aktuelle Entwicklung auf europäischer Ebene: multilaterale Rahmenvereinbarung seit 1. Juli 2023
Seit dem 1. Juli 2023 bildet eine multilaterale (europäische) Rahmenvereinbarung die Grundlage für ein vereinfachtes Verfahren zur Gewährung von Ausnahmen bei grenzüberschreitender Telearbeit. Die Eckpfeiler dieser multilateralen Rahmenvereinbarung stellen sich wie folgt dar:
- „Telearbeit“ wird als Arbeitstätigkeit definiert, die ortsunabhängig – auch vom Sitz des Arbeitgebers aus – ausgeübt werden kann und es dem Arbeitnehmer ermöglicht, mit der Arbeitsumgebung des Arbeitgebers unter Einsatz von Informationstechnologie verbunden zu bleiben, um die ihm übertragenen Aufgaben zu erfüllen.
- Eine grenzüberschreitende Telearbeit liegt vor, wenn diese in einem Mitgliedsstaat ausgeübt wird, der nicht der Sitzstaat des Arbeitgebers ist.
- Die Telearbeit im Wohnortstaat muss mindestens 25 % und weniger als 50 % der gesamten Arbeitstätigkeit des Arbeitnehmers ausmachen.
- Der Arbeitnehmer ist für gewöhnlich nicht (auch) in anderen Staaten als seinem Wohnortstaat und dem Sitzstaat des Arbeitgebers tätigt.
- Der Arbeitnehmer übt in seinem Wohnortstaat für gewöhnlich nicht auch andere Tätigkeiten als Telearbeit im oben beschriebenen Sinne aus und ist auch nicht selbstständig tätig.
Zusammengefasst ist die neue Rahmenvereinbarung also dann anwendbar, wenn der Arbeitnehmer für gewöhnlich nur in seinem Wohnortstaat und im Sitzstaat des Arbeitgebers tätig wird und das Ausmaß der Telearbeit im Homeoffice mind 25 %, aber weniger als 50 % seiner gesamten Arbeitstätigkeit beträgt. Regelmäßige Tätigkeiten in weiteren Staaten, zusätzliche selbstständige Tätigkeiten oder ein weiterer Arbeitgeber mit Sitz in einem anderen Staat schließen die Anwendung der Rahmenvereinbarung aus.
Die Rahmenvereinbarung entfaltet allerdings nur Wirkung auf jene Staaten, die diese auch unterzeichnet haben. Neben Österreich sind dies derzeit Deutschland, die Schweiz, Tschechien, Liechtenstein, die Niederlande, die Slowakei, Belgien, Luxemburg und Finnland. Weitere Staaten haben bereits signalisiert, dass sie der Vereinbarung beitreten möchten. Informationen zu den weiteren Unterzeichnerstaaten sammelt und veröffentlicht der Föderale Öffentliche Dienst Soziale Sicherheit des Depositarstaates Belgien unter „Cross-border telework in the EU, the EEA and Switzerland“ | Federal Public Service – Social Security (belgium.be).
Bilaterale Rahmenausnahmevereinbarungen
Unabhängig von der multilateralen Ausnahmevereinbarung hat Österreich im letzten halben Jahr bilaterale Vereinbarungen, wonach auf Antrag bis zu 40 % Homeoffice-Tätigkeit („Telearbeit“) im Wohnsitzstaat ohne einen Wechsel der sozialversicherungsrechtlichen Zuordnung möglich sind, abgeschlossen – mit Deutschland (mit Wirkung ab 1. Jänner 2023), mit der Slowakei (mit Wirkung ab 1. Juni 2023) und mit Tschechien (mit Wirkung ab 1. März 2023).
Anträge, die noch auf Basis dieser bilateralen Rahmenvereinbarungen gestellt wurden, bleiben auch nach dem 1. Juli 2023 aufrecht.
Auslaufen der Corona-Ausnahmeregelung mit 30. Juni 2023
Die Ausnahmeregelung für die Zeit der Corona-Pandemie, wonach Homeoffice-Tätigkeiten wegen höherer Gewalt auch in wesentlichem Ausmaß nicht zu einem Wechsel des anwendbaren Sozialversicherungsrechts vom Arbeitgeber- zum Wohnortstaat führen, lief mit 30. Juni 2023 aus.
Ist weiterhin grenzüberschreitende Homeoffice-Tätigkeit im wesentlichen Ausmaß gewünscht, besteht daher nun Handlungsbedarf. Soll das Sozialversicherungsrecht des Arbeitgeberstaates weiterhin anwendbar bleiben, ist ein Ausnahmeantrag – bei Zutreffen der Voraussetzungen – nach der multilateralen europäischen Ausnahmevereinbarung, ansonsten (wie bisher) individuell auf Basis von Art 16 VO 883/2004, erforderlich.
Zur Verfügung gestellt von der KPMG Austria GmbH.
Aus dem KSV1870 Magazin forum.ksv - Ausgabe 3/2023.