Das Jahr 2010 war für viele europäische Länder ein Jahr des Durchatmens und der jedenfalls vorübergehenden Erholung nach den Mega-Zuwachsraten des Jahres 2009. In Westeuropa ging daher auch die Zahl der Unternehmenspleiten 2010 in Summe um ca. 2 % zurück, nachdem sie 2009 um 19 % angestiegen war. Also eine leichte Entspannung, aber definitiv noch auf hohem Niveau.
Die Unternehmensinsolvenzen und ihre Entwicklung reflektieren folgende Faktoren: die wirtschaftliche Stabilität eines Landes, das Kreditvergabeverhalten der Banken dieses Landes und das kulturelle Umfeld, wie Krisen begegnet wird: kalmierend oder beherzt. Es gibt Länder, in denen Probleme rasch und energisch abgearbeitet werden - dort springen die Insolvenzen sofort an, gehen aber nach verhältnismäßig kurzer Zeit wieder zurück. Bekannte Beispiele dafür sind Finnland und die Niederlande. Dann gibt es Länder, in denen die Banken die Probleme durch Kreditvergaben kurzfristig mildern, aber mittel- und langfristig vor sich herschieben und damit vergrößern. Ein Beispiel dafür dürfte Griechenland sein. Je stabiler die Wirtschaft eines Landes, desto eher wird man bei Unternehmen, Banken aber auch in der Handhabung der Rechtsregeln ein beherztes Vorgehen antreffen. Banken müssen sich ja letztendlich auch die Ausfälle, die aufgrund einer eintretenden Insolvenz bilanziell abzubilden sind, auch leisten können und wollen. Österreich ist in diesem Kontext als wirtschaftlich stabiles Land einzustufen, dessen Banken sogar in der letzten Krise durchaus antizyklisch handeln konnten - wo es irgend vertretbar war, haben sie die Liquidität der Unternehmen aufrechterhalten, da sie an deren wirtschaftliche Leistungsfähigkeit geglaubt haben.
Insolvenzen fast überall abgeflacht
Die Darstellung des Insolvenzverlaufes seit 2005 (siehe Tabelle nächste Seite) kann zeigen, ob die Krise als zyklisches Einmalphänomen verarbeitet werden konnte, oder ob sie eine latente wirtschaftliche Schwäche des jeweiligen Landes aufgedeckt und folglich eine Insolvenzwelle ausgelöst hat. Ein Teil der Länder lag im Jahr 2010 knapp über oder unter dem Wert von 2005: Es waren dies Deutschland, Österreich, Italien, die Niederlande, Schweden. Ein weiterer Teil liegt deutlich darüber, aber letztlich krisenbedingt erklärbar zwischen 110 und 140 % des Wertes von 2005. Eine dritte Gruppe allerdings liegt so exorbitant über dem Ausgangswert von 2005, dass tatsächlich von langfristig entstandenen Strukturdefiziten gesprochen werden muss, die hier abzuarbeiten sind. Mit wenigen Ausnahmen zeigen alle Länder (siehe nachstehende Tabelle) im Jahr 2010 deutlich geringere Zuwächse als davor oder bereits Rückgänge, sodass europaweit davon ausgegangen werden kann, dass die Insolvenzwelle ihren Zenit überschritten hat.
Insolvenzverlauf europäischer Länder von 2005 bis 2010
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2005 = 100% | 2006 | 2007 | 2008 | 2009 | 2010 | Anteil 2010 von 2005 |
Griechenland | 580 | -10% | -2% | 4% | -0% | -1% | 61% |
Deutschland | 36.843 | -17% | -15% | 0% | 12% | -2% | 87% |
Italien | 12.476 | -19% | -48% | 43% | 23% | 20% | 90% |
Österreich | 7.056 | -5% | -6% | 0% | 9% | -8% | 90% |
Niederlande | 6.780 | -12% | -23% | 1% | 73% | -10% | 107% |
Schweden | 6.692 | -8% | -6% | 9% | 21% | -5% | 109% |
Frankreich | 41.739 | -7% | 3% | 23% | 7% | -5% | 122% |
Belgien | 7.799 | -3% | 1% | 11% | 11% | 2% | 123% |
Finnland | 2.278 | 0% | -1% | 16% | 25% | -13% | 126% |
Schweiz | 4.751 | -5% | -5% | -2% | 24% | 20% | 132% |
Großbritannien | 12.893 | 2% | -5% | 25% | 23% | -13% | 133% |
Luxemburg | 675 | -8% | 10% | -13% | 17% | 32% | 136% |
Norwegen | 2.160 | -10% | -6% | 41% | 38% | -12% | 205% |
Portugal | 2.278 | 5% | 63% | 54% | 36% | 16% | 226% |
Dänemark | 2.495 | -20% | 21% | 54% | 54% | 13% | 259% |
Irland | 331 | -8% | 3% | 123% | 82% | 8% | 461% |
Spanien | 929 | -2% | 8% | 187% | 97% | -3% | 522% |
Hinweis: Die Prozentsätze beziehen sich jeweils auf die korrigierten absoluten Vorjahreswerte.
Griechenland: Zu wenig Insolvenzen
Ein ganz außergewöhnlicher Kandidat ist Griechenland: Dies beginnt mit den lächerlich geringen Insolvenzzahlen, die darauf hindeuten, dass es kein modernes Insolvenzregime gibt, das mit unserem oder dem anderer westlicher Länder vergleichbar wäre. Weiters gehen dort die Insolvenzen laufend zurück. Dies lässt ebenfalls darauf schließen, dass in Griechenland die Uhren anders gehen, wenn nicht sogar verkehrt. Griechenland wird in den nächsten Jahren nicht nur Staatsvermögen versilbern und eine Reihe großer derzeit noch staatlicher Unternehmen privatisieren müssen, um überhaupt den Anschluss an westliche Standards zu schaffen. Es wird auch einen normaleren Umgang mit dem Phänomen des wirtschaftlichen Scheiterns und der Insolvenz finden müssen. Denn die Insolvenz eines Unternehmens ist das Ergebnis von Wettbewerb und klaren, durchgesetzten Regeln. Wo Unternehmen angesichts großer Probleme nicht pleite gehen, zeigt sich, dass etwas im Wirtschaftsgefüge grob aus dem Ruder läuft.
Österreich: ein Fels in der Brandung
Österreich zeigt auch im Jahr 2010, dass es seine Hausaufgaben in den 90er Jahren zwar schmerzvoll, aber letztlich erfolgreich gemacht hat. Ein Teil der jetzt von Griechenland anzugehenden Reformen und Strukturveränderungen haben uns in den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts die größte Insolvenzwelle der Nachkriegszeit beschert - mit Zuwächsen von 30 % und 40 % pro Jahr. Das daraus entstandene „Fitnessprogramm" konnte sich sehen lassen, ebenso wie die Insolvenzentwicklung der letzten Jahre. Im Sog der deutschen Politik der Produktivitätssteigerungen hat jedenfalls die österreichische Wirtschaft gezeigt, was sie zu leisten imstande ist. Die öffentliche Hand in Österreich hat allerdings eine derartige Schlankheitskur noch vor sich. Da hat die Krise noch nicht einmal stattgefunden, geschweige denn entsprechende Maßnahmen der Gegensteuerung eingeläutet.
Schulden soweit das Auge reicht
Konnte man zur Mitte 2010 bereits den Konjunkturaufschwung in vielen Ländern und Branchen mit Händen greifen, so stehen wir heute dennoch vor einem größeren Fragezeichen als 2008. Damals war klar, dass die Politik handeln musste und handeln konnte. Heute ist nicht mehr klar, ob die Politik überhaupt noch handeln kann, angesichts der absolut überwältigenden Schuldenberge der Staaten und der mangelnden Fachkompetenz sowohl in Europa als auch in den USA. Dazu der Insolvenzexperte des KSV1870
Dr. Hans-Georg Kantner: "Entweder haben die amerikanischen Politiker den Ernst der Lage noch nicht erkannt, wenn sie ihr Land wochenlang an den Rand der Pleite manövrieren. Oder die Auffassung, wie der gegenwärtigen Lage beizukommen ist, geht so diametral auseinander, dass es keinerlei nationalen Konsens mehr gibt. Die dritte Möglichkeit, dass nämlich demokratisch gewählten Politikern ihr eigenes Land weniger wichtig ist, als etwas Kleingeld für die nächste Wahl, will ich dabei gar nicht in Betracht ziehen".
"A Krise muaß her" (© Lukas Resetarits)
Was im Unternehmen der Fall ist, scheint sich nun auch im Gemeinwesen, also im Großen zu bestätigen: Änderungen sind nur angesichts wirklich krisenhafter Entwicklungen möglich, oder anders: solange Weiterwursteln irgendwie noch argumentierbar ist, geschieht offenbar gar nichts - weder im Unternehmen noch im staatlichen Gemeinwesen. Und so wird auch diese umfassende Krise der Staatsfinanzen der entwickelten Welt letztlich ihr Gutes haben: Regierungen und Parlamente beschließen unter dem realen Druck der angehäuften Schulden unter Umständen schon lange fällige und oft auch überfällige Reformen, um die Effizienz der Verwaltung und der Wirtschaft voranzubringen. Griechenland ist mit Sicherheit ein solcher Kandidat, aber auch Länder mit noch gutem Rating verfügen definitiv über ausreichend Potenzial, die Ausgabenseite zu reformieren. Offensichtlich brauchen Politiker noch stärker als Unternehmer den Druck von außen, um aufzuwachen und das Richtige zu tun.
Alle im selben Boot
Zuletzt ist aber auch das System selbst auf den Prüfstand zu stellen: Schon die Tatsache, dass es keinen Entschuldungsmechanismus für souveräne Staaten gibt, verlagert die Bürde der Schulden weg von den Gläubigern, die sie eigentlich schultern sollten, hin zum Steuerzahler. Das führt zu erheblichen Verwerfungen im System der Europäischen Union und letztlich dazu, dass - entgegen dem Bauplan der EU - sich alle guten Zahler mit den schlechten Zahlern in einem Boot wiederfinden werden. Dies aber ohne irgendeine Handhabe gegenüber den schlechten Schuldnern zu besitzen, die eine Besserung für die Zukunft versprechen könnte.
Nichts ist schwieriger als die Beurteilung der Bonität eines Landes: Dabei spielen die Arbeitsleistung und Lohnproduktivität genauso eine Rolle, wie die Einschätzung der Effektivität des Rechtssystems und der politischen Willensbildung. Die Kriterien für den Eintritt in das Eurosystem (sog. Maastricht-Kriterien) waren ja per se nicht schlecht. Zwei davon haben einen wichtigen dynamischen Kontrolleffekt, wurden aber leider nicht effektiv beobachtet und eingefordert:
- Stabilität des öffentlichen Haushalts: Der staatliche Schuldenstand darf nicht mehr als 60 %, die jährliche Nettoneuverschuldung, nicht mehr als 3 % des Bruttoinlandsprodukts betragen.
- Langfristige Zinssätze: Der Zinssatz langfristiger Staatsanleihen darf nicht mehr als
zwei Prozent-Punkte über dem Durchschnitt der drei preisstabilsten Mitgliedstaaten liegen.
Wessen Schultern tragen die Bürde?
Vor allem der zweite Punkt der effektiven Verzinsung hätte ohne weiteres als relevantes Marktkriterium herangezogen werden können, um einen „Insolvenzmechanismus" auszulösen: Ein Staat, dessen langfristige Anleihen nicht mehr zu einem solchen Zinssatz im Markt untergebracht werden können, wäre effektiv an die Grenze der Verschuldungsfähigkeit gestoßen und würde in der Folge geradezu zwingend zahlungsunfähig. Das hätte einen Schuldenschnitt bei den Gläubigern zur Folge, die aber selbst steuern können, ob ein solches Szenario eintritt oder nicht: Sie können nämlich, um den Schuldenschnitt zu vermeiden, weiter Anleihen zeichnen, aber eben nur zu maximal zwei Prozent-Punkten über dem Satz, den die drei besten europäischen Mitgliedsländer am Markt benötigen. Damit wäre automatisch die Bürde auf die Schultern der Gläubiger gelegt und nicht auf die der Staaten und der Steuerzahler.
Auf zu neuen Ufern!
Die Politik wäre also gut beraten, so rasch wie möglich ein solches Regelwerk zu entwickeln. Denn der Tag ist nicht fern, an dem auch die Kreditwürdigkeit der guten Euroländer erschöpft sein wird und wer würde dann in einer eventuellen neuerlichen Krise die Banken herauspauken können? Leider wird die derzeitige Politik der EU eher dazu führen, dass zu guter (oder eigentlich schlechter) Letzt alle Länder tatsächlich wieder innerhalb dieser Zwei-Prozent-Schwelle liegen werden - aber eben nicht am unteren Ende der Skala, sondern am oberen, dort wo sich heute die schlechten Zahler innerhalb der Eurozone befinden.
Für den Inhalt verantwortlich:
Dr. Hans-Georg Kantner, Leiter KSV1870 Insolvenz
Im nachstehenden Download finden Sie die Internationale Insolvenzstatistik 2010.
1314086185455_110823_KSV1870_Internationale_Insolvenzstatistik2010.pdf