ESG

ESG: Neuordnung der Wirtschaft?

Hinter dem Kürzel ESG („Environment, Social, Governance“) steht eine umfassende Neuaufstellung der Reportingpflichten sowie der Bewertung europäischer Unternehmen. Viele Details sind noch ungeklärt, Grund zur Sorge besteht aktuell jedoch noch nicht. Eine erste Einschätzung von Gerhard Wagner, Geschäftsführer der KSV1870 Information GmbH.

„Tempora mutantur, nos et mutamur in illis“, weiß der Lateiner – Die Zeiten ändern sich und wir mit ihnen. Ein nicht zu knappes Ausmaß an Veränderung verspricht eine Abkürzung mit sich zu bringen, die derzeit vor allem Legistiker in Brüssel beschäftigt: ESG. Das Kürzel steht für „Environment, Social, Governance“, also Umwelt, Soziales und Unternehmensführung. Diese drei Bereiche sollen künftig im Zentrum der Nachhaltigkeitsberichterstattung von Unternehmen stehen. Ziel der Europäischen Union (EU) ist es insbesondere, die Finanzierung von Unternehmen stärker als bisher an den Nachweis zu binden, dass deren geplante Investitionen Kriterien der Nachhaltigkeit entsprechen. Dafür werden neue Standards des Reportings benötigt und erarbeitet. Damit ist ESG eine zentrale Komponente des Aktionsplans „Nachhaltige Finanzierung“, den die Europäische Kommission 2018 veröffentlicht hat. Dieser ist das ambitionierte Vorhaben, das europäische Finanzsystem nach den Kriterien der Nachhaltigkeit neu aufzustellen.

KSV1870 Information GmbH - Geschäftsführer Gerhard Wagner
Gerhard Wagner
Geschäftsführer der KSV1870 Information GmbH
Fotocredit: Petra Spiola

Nicht nur finanzielle Aspekte entscheidend
Die Grundidee besteht darin, dass Investitionen nicht nur unter finanziellen Gesichtspunkten, sondern ebenso unter solchen der Nachhaltigkeit unter ihren drei Dimensionen Ökologie, Soziales und Ökonomie gerechtfertigt werden müssen. Finanzierungsstellen wie Banken - aber auch Fördergeber oder öffentliche Auftraggeber von Projekten – sind hierbei der natürliche Hebel, an dem angesetzt wird. ESG und damit Kriterien der Nachhaltigkeit zu ignorieren, wird künftig teurer werden.

„Green Deal“ als Zentrum aller Bestrebungen
Wie viele andere Maßnahmen der Europäischen Union, sind auch die ESG-Kriterien ein Baustein des „Green Deal“, also der Bestrebungen, bis zum Jahr 2050 klimaneutral zu werden. Da sie explizit die sozialen Auswirkungen ökonomischen Handelns und die ethischen Implikationen von Managemententscheidungen mitberücksichtigen, geht ESG deutlich über die Themen Klima und Umwelt hinaus. Anders als das, vom Anspruch vergleichbare, aber auf Freiwilligkeit beruhende CSR („Corporate Social Responsibility“) hat ESG Verpflichtungscharakter. Das darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich dabei keineswegs um eine zentralistische Idee der EU handelt.  So haben immerhin alle 193 UNO-Mitglieder die „Agenda 2030“ unterzeichnet, deren Ziele zu einem Gutteil auch in den ESG-Kriterien Niederschlag gefunden haben. Rechtlich fügt sich ESG in die Offenlegungs-Verordnung, die Richtlinie zur Nachhaltigkeitsberichterstattung sowie die Taxonomie-Verordnung ein. Letztere wurde unlängst einer breiten Öffentlichkeit bekannt, weil das EU-Parlament Gas und Atomstrom als "grüne" Energieformen gemäß der Taxonomie definierte.

ESG als „Klebstoff“
ESG ist gewissermaßen das verbindende Element, der Klebstoff, der diese hochkomplexen Rechtsmaterien zusammenhält und mit Leben füllt. Noch sind nicht alle Details geklärt, nicht alle Bewertungskriterien ausformuliert und über der Transformation der Normen in die Realwirtschaft steht noch ein großes Fragezeichen. Einiges lässt sich jedoch jetzt schon mit Sicherheit vorhersagen. So soll beispielsweise mit der Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD), die derzeit als Vorschlag begutachtet wird, eine massive Ausweitung der Reportingpflichten auf alle Unternehmen mit mehr als 250 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie mehr als 40 Millionen Euro Umsatz erfolgen. 

Betrifft alle, nicht nur die Finanzwelt
Eine oberflächliche Betrachtungsweise könnte den Eindruck erzeugen, ESG sei eine Sache die ausschließlich die Finanzwelt beträfe. Doch diese Annahme greift zu kurz. Zwar werden zuerst einmal die Banken mit Auswahl und Anwendung der ESG-Kriterien beschäftigt sein.

ESG wird ein Umdenken für die gesamte Wirtschaft bedeuten und damit letztlich auch die Konsumenten betreffen.

Und in einem zweiten Schritt all jene Unternehmen, die diesen Kriterien gemäß Kredit- oder Förderanträge stellen oder sich für Ausschreibungen bewerben. Doch diese Unternehmen agieren nicht im luftleeren Raum, sie sind Teil von Lieferketten. So betrachtet wird ESG ein Umdenken für die gesamte Wirtschaft bedeuten und damit letztlich auch die Konsumenten betreffen. Das ist auch durchaus gewollt so, denn Nachhaltigkeit ist ein gesamtgesellschaftliches Ziel, das letztlich allen Menschen zugutekommen soll. Wie jeder regulatorische Eingriff dieser Größenordnung (man denke etwa an die Cyberrisk-Richtlinie oder die Datenschutz-Grundverordnung), wird die Transformation der Legistik in die Realität eine nur schwer prognostizierbare Dynamik annehmen. Wir müssen uns jedenfalls auf einen Lernprozess einstellen, dessen Ausmaß an Erfolg sich erst mit zeitlichem Abstand, ex post, beurteilen lassen wird.

Teil einer vollumfassenden Unternehmensbewertung
Der KSV1870 wird sich dabei als Informations-Hub positionieren. Aus unserer Sicht ist ESG ein Baustein auf dem Weg zu einer ganzheitlichen Unternehmensbewertung, einem Komplettbild, das gleichermaßen finanzielle wie nicht-finanzielle Faktoren beinhaltet. 

Der von der Europäischen Union eingeschlagene Weg ist ebenso sinnvoll wie alternativlos. Die Veränderungen werden für einige Unternehmen belastend, vielleicht sogar schmerzhaft sein. Wie jede Veränderung ist ESG aber auch eine Chance. Insbesondere Klein- und Mittelunternehmen, Ein-Personen-Unternehmen und Start-Ups haben oft die Agilität, um sich in einem radikal veränderten Umfeld zu behaupten – die Coronakrise hat das eindrucksvoll bewiesen.