Der 12-Stunden-Arbeitstag erhitzt die Gemüter. Zwischen Lobpreisung und Verteufelung lassen sich sachliche Argumente für beide finden. Im besten Fall sogar ein Konsens.
Es gibt ein paar politische Themen, bei denen emotionsgeladene Debatten dazugehören. Sie sind quasi das Salz in der Suppe. Das schließt Bildung ein, das schließt Migration ein, und das schließt auch das Thema Arbeit ein. Letzteres verwundert kaum, schließlich verbringen wir einen nennenswerten Teil unserer Lebenszeit im Büro. Hohe Wellen schlägt insbesondere das neue Arbeitszeitgesetz, das seit 1. September dieses Jahres in Kraft ist. Zentrales Element ist dabei die Anhebung der maximalen Arbeitszeit auf zwölf Stunden pro Tag bzw. 60 Stunden pro Woche. Juristisch korrekt formuliert: Die tägliche Normalarbeitszeit darf fünfmal pro Woche bis zu zwölf Stunden betragen. Allerdings nur unter der Voraussetzung, dass im Betrieb ein erhöhter Arbeitsbedarf vorliegt. Die elfte und zwölfte Stunde gelten dabei als Überstunden. Arbeitnehmer können aber ablehnen, länger als zehn Stunden zu arbeiten. Während Arbeitgebervertreter die Novelle als mutigen Schritt zu mehr Flexibilisierung feiern, kontern Arbeiterkammer und Gewerkschaft mit dem Vorwurf der Ausbeutung. So weit, so normal. Doch lässt sich abseits weltanschaulich geprägter Reflexe eine sachliche Bestandsaufnahme durchführen?
Arbeitszeit sinkt. Im Ländervergleich zeigt sich, dass Österreich mit einer gesetzlichen Maximalarbeitszeit von zwölf Stunden pro Tag näher an den europäischen Normalfall rückt. Während Länder wie Luxemburg, Portugal und Slowenien bei zehn Stunden stehen, beträgt der Wert zum Beispiel in Schweden 13 Stunden. Europäischer Spitzenreiter ist Norwegen mit 16 Stunden Höchstarbeitszeit pro Tag (dort ist die maximale Wochenarbeitszeit aber auf 69 Stunden begrenzt). Besonders aussagekräftig sind diese Zahlen allerdings nicht, weil sie Faktoren wie Urlaubszeiten, Sozialleistungen und kollektivvertragliche Vereinbarungen unberücksichtigt lassen. Laut Eurostat, dem statistischen Amt der Europäischen Union, beträgt die Zahl der durchschnittlich geleisteten Wochenstunden (bei Vollbeschäftigung und inklusive Überstunden) in Österreich 42,7 (Stand: 2017) Stunden. Der Durchschnitt der 28 EU-Länder liegt bei 41,3 Stunden. Gleichzeitig fällt auf, dass die tatsächlich geleistete Arbeitszeit in fast ganz Europa sukzessive sinkt: 2006 wurde in Österreich noch 44,2 Stunden pro Woche gearbeitet.
Während Arbeitgebervertreter die Novelle als mutigen Schritt zu mehr Flexibilisierung feiern, kontern Arbeiterkammer und Gewerkschaft mit dem Vorwurf der Ausbeutung.
Pluspunkt Flexibilität. Befürworter des 12-Stunden-Tages führen als Hauptargument die höhere Flexibilisierung an. Es ist offenkundig, dass Unternehmer wesentlich besser auf Marktschwankungen reagieren können, wenn sie ihre Mitarbeiter zu Spitzenzeiten verstärkt einsetzen können. Die Flexibilisierung kommt jedoch auch den Arbeitnehmern zugute – und zwar dann, wenn sie die geleistete Mehrarbeit in Form von Zeitausgleich als zusätzlichen arbeitsfreien Tag nutzen können. Und tatsächlich können viele Arbeitnehmer dem Modell „Vier Tage arbeiten, drei Tage Wochenende“ etwas abgewinnen. Laut einer von marketagent.com im Jahr 2017 unter 1.000 Berufstätigen durchgeführten Befragung würden sich 44,5 % der Arbeitnehmer für dieses Modell entscheiden – bei insgesamt gleichbleibender Gesamtarbeitszeit. Allerdings ist die 4-Tage-Woche wohl nicht in jedem Betrieb praktikabel.
Unterschiedliche Evidenzen. Ein Kritikpunkt am 12-Stunden-Tag, der implizit auch die 4-Tage-Woche betrifft, kommt vonseiten der Arbeitsmediziner. Denn zu langes Arbeiten ist nicht unbedingt gesund. So zeigte eine Studie des Zentrums für Public Health der Medizinischen Universität Wien aus dem Jahr 2017, dass Pflegekräfte in Seniorenheimen nach zwei 12-Stunden-Tagen mindestens drei Tage Pause benötigen, um sich vollständig zu erholen. Zudem sei generell nach zehn Stunden Arbeit mit einem Knick in der Leistungskurve zu rechnen: Neben der Fehlerhäufigkeit steigt auch die Unfallgefahr. Und es erhöht sich auch das Risiko von Herz-Kreislauf-Erkrankungen, wenn über einen längeren Zeitraum 50 Stunden pro Woche gearbeitet wird.
Grundsätzlich stellt sich zusätzlich die Frage, ob in vier Tagen genauso effizient gearbeitet werden kann, wie das von Montag bis Freitag der Fall ist. Falls nicht, wäre der persönliche Vorteil des Arbeitnehmers gleichzeitig ein ökonomischer Nachteil für den Arbeitgeber.
Hier gibt es unterschiedliche Evidenzen: So zeigt eine Studie des University College London aus 2017, dass der Höhepunkt der Produktivität je nach Arbeitsprozess zwischen 8,0 und 8,6 Stunden liegt. Danach sinkt sie. Gleichzeitig berichten Unternehmen – vor allem Start-ups aus der New Economy – von sehr positiven Erfahrungen. Vielbeachtet war zudem das Experiment der neuseeländischen Fondsgesellschaft Perpetual Guardian, die zwei Monate lang unter wissenschaftlicher Begleitung die 4-Tage-Woche getestet hat. Nach der Testphase berichteten 78 % der Belegschaft von einer idealen Work-Life-Balance. Zum Vergleich: Zuvor waren es 54 %. Außerdem sank im gleichen Zeitraum der Stresslevel um 7 %. Ein Rückgang der Produktivität konnte jedoch nicht beobachtet werden.
Politik in der Pflicht. Ein spezielles Problem ist die Kinderbetreuung. Wer bis zu zwölf Stunden täglich arbeitet, benötigt gegebenenfalls ein Kindertagesheim mit entsprechendem Betreuungsangebot. Allerdings bieten von den knapp 3.000 Einrichtungen in Österreich weniger als 10 % eine Kinderbetreuung an, die zwölf Stunden pro Tag übersteigt. Das ist für sich noch kein Argument gegen den 12-Stunden-Tag, zeigt aber deutlich, dass politische Entscheidungen im Arbeitsrecht weitreichende Folgen haben. Arbeitsweisen, die beide Seiten zum Vorteil verhelfen, sind kein unerreichbarer Mythos. Augenmaß und die Einbindung aller Beteiligten sind dafür aber sicherlich begünstigende Faktoren.
Text: Raimund Lang