Offene Stellenausschreibungen aber keine Bewerbungen. Immer häufiger sind Betriebe mit dieser Situation konfrontiert und müssen zusehen, wie ihnen aufgrund fehlender Mitarbeiter lukrative Geschäfte durch die Finger gleiten.
Ein Kommentar von Ricardo-José Vybiral, CEO der KSV1870 Holding AG.
Zuerst die Corona-Krise, jetzt die Kostenkrise – und, als wären das nicht schon genug Herausforderungen, mittendrinnen eine massive Arbeitskräftekrise. Nicht wenige Fachleute sind der Meinung, dass die jüngsten Kostenexplosionen die heimischen Unternehmen mindestens genauso hart treffen werden wie die Pandemie. Wenn wir uns ansehen, wo und in welchem Ausmaß die Preise zuletzt massiv angehoben wurden, müssen wir davon ausgehen, dass auch das Jahr 2023 zur wirtschaftlichen Großbaustelle wird. Dazu trägt auch der akute Mangel an Arbeitskräften bei. Denn immer häufiger zeigt sich, dass auch dadurch den Unternehmen lukrative Geschäfte durch die Lappen gehen. So bestätigt das EY-Mittelstandsbarometer 2022, dass bei vier von zehn Unternehmen der Fachkräftemangel bereits Umsatzeinbußen verursacht. Ein Problem, das im Übrigen auch außerhalb der Landesgrenzen besteht.
Von der Industrie bis zu den Lehrern
Den heimischen Betrieben zu unterstellen, sie seien nicht willig, neues Personal einstellen zu wollen, wäre schlichtweg falsch. Laut Austrian Business Check-Umfrage des KSV1870 hat jedes vierte Unternehmen geplant, den Personalstand im laufenden Jahr zu erhöhen. Doch es fehlt vielerorts schlicht und ergreifend an Bewerbern. Besonders besorgniserregend ist es, dass der Fachkräftemangel mittlerweile zu einem flächendeckenden Problem mutiert ist. Neben den bekannten Baustellen im Tourismus und der Gastronomie, die sich während der Pandemie weiter verschärft haben, fehlt es unter anderem auch in der Energie- und Transportwirtschaft, dem Handel, im Gesundheitsbereich und dem Bildungswesen an gut ausgebildetem Personal. Die Gründe dafür sind vielfältig, ein ganz zentraler Faktor ist aus meiner Sicht jedoch auch, dass sehr häufig einzig und allein der akademische Weg als adäquate Basis angesehen wird. Die klassische Lehre wird im Gegensatz dazu eher als „Notausgang“ erachtet. Und das finde ich schade, denn nicht nur in technischen Berufen ist eine spezifische Ausbildung das Fundament einer erfolgreichen Karriere. Sein „Handwerk“ von der Pike auf zu lernen und dabei von Beginn an nah an der Praxis zu sein, ist zweifelsohne ein erfolgversprechendes Modell.
Neue Wege aus dem Fachkräfte-Dilemma
Die vergangenen Jahre haben uns gezeigt, wie wichtig es ist, sich nicht nur über neue Geschäftsmodelle oder Vertriebswege Gedanken zu machen, sondern auch das Thema Arbeitswelt zu hinterfragen. Ob man will oder nicht: Wir kommen nicht drumherum, neue Angebote zu schnüren, um für potenzielle Mitarbeiter attraktiv zu sein. Denn wie der aktuelle Mangel an Arbeitskräften deutlich zeigt, funktionieren bisherige Wege nur noch selten. Bleibt die Frage: Was könnte funktionieren? Pauschal wird das nicht zu beantworten sein, weil es den einen Weg nicht gibt. Zu divers und vielfältig sind die Branchen.
Vollversorgung bei Kinderbetreuung
Ein wesentliches Problem ist, dass Frauen häufig in Teilzeit arbeiten, um fehlende Betreuungsmöglichkeiten, insbesondere in ländlichen Regionen, auszugleichen. Im Jahr 2021 lag die Teilzeitquote der Frauen in Österreich laut Statistik Austria bei knapp 50 Prozent (Männer: 12 Prozent). Viele davon taten dies bei Weitem nicht freiwillig, sondern es blieb ihnen aufgrund fehlender oder zu kurz geöffneter Kindergärten wenig Spielraum. Und dadurch geht der Wirtschaft großes Potenzial verloren. Es ist somit höchste Zeit: Einerseits bedarf es deutlich flexiblerer Möglichkeiten der Kinderbetreuung, andererseits müssen auch die Unternehmen selbst flexiblere Arbeitszeitmodelle implementieren. Ganztägige Kinderbetreuungseinrichtungen müssen flächendeckend in Österreich endlich zur Selbstverständlichkeit werden. Kindergärten, die um 14 Uhr schließen und in den Ferien wochenlang geschlossen haben, sind nicht mehr zeitgemäß und helfen niemandem. Weder den Eltern noch der Wirtschaft.
Vollzeitbeschäftigung trotz 4-Tage-Woche?
Es gehört diskutiert: Etwa über die 4-Tage-Woche bei Vollzeitbeschäftigung oder etwaige Arbeitszeitmodelle, wo es trotz klassischer 40-Stunden-Woche möglich ist, sich bereits am Nachmittag in den Feierabend zu verabschieden, um zum Beispiel mehr Zeit mit den Kindern zu verbringen. Es ist unbestritten, dass die Freizeit ein immer zentralerer Faktor für die Menschen wird – darauf müssen sich auch Betriebe einstellen, wenn sie langfristig den Personalmangel in den Griff bekommen möchten. Und damit müssen sich die Unternehmen spätestens jetzt auseinandersetzen, um nicht an Attraktivität einzubüßen. In Zeiten des Arbeitnehmermarktes ein nicht zu unterschätzendes Asset.
Steuerfreies Einkommen nach Erreichen des Pensionsalters
Ein weiterer Ansatz wäre, Menschen, die auch nach dem Ende ihrer regulären Laufbahn motiviert sind weiterzuarbeiten, in Beschäftigung zu halten. Wie das funktionieren könnte? Eventuell in der Form, jenes Einkommen, das nach dem Erreichen des Pensionsantrittsalters erarbeitet wird, steuerfrei auszubezahlen. Dadurch würden die Kosten für die Unternehmen deutlich geringer ausfallen, motivierte Mitarbeiter könnten weiterhin aktiv sein und ihr Know-how, vielleicht in anderer Funktion, an jüngere Kollegen weitergeben. Eine Win-win-Situation für alle Beteiligten. Die älteren Mitarbeiter verlängern ihre berufliche Laufbahn, die jüngeren Mitarbeiter eignen sich zusätzliches Wissen an und den Unternehmen ist geholfen, indem es weniger offene Stellen gibt und damit auch weniger lukrative Aufträge durch die Finger gleiten. Eine Variante, die für alle Beteiligten durchaus ihren Charme haben könnte.