Ricardo-José Vybiral sprach im Rahmen von KSV1870 im Dialog mit dem Genetiker Markus Hengstschläger.
Ricardo-José Vybiral: Wir befinden uns aktuell in einer besonderen Situation, trotzdem sind laut KSV1870 Umfrage rund 75 % der Unternehmen mit einer positiven Einstellung ins Jahr 2021 gestartet. Auch du gehst in diese Richtung.
Markus Hengstschläger: Statistiken zeigen klar, was der Menschheit in den vergangenen etwa 100 Jahren alles gelungen ist – zum Beispiel in den Bereichen Bildung, Gesundheit oder Gerechtigkeit. Aber natürlich gibt es in vielen Bereichen noch viel Luft nach oben. Es hungern immer noch viel zu viele Menschen, Terrorismus, Rassismus, Klimawandel und seit einem Jahr die Corona-Pandemie. Wir hätten bereits so manche Werkzeuge, um diese Herausforderungen zu meistern. Aber es kommt sehr darauf an, dass sich der Mensch auch auf seine Grundbegabungen besinnt – grundsätzlich ist er nämlich ein vernunftbegabtes, soziales und lösungsbegabtes Wesen.
Trotzdem denken viele immer in halbleeren Gläsern und nicht in halbvollen. Steckt diese Denkweise in unseren Genen?
Aus wissenschaftlicher Sicht sind Begabungen Potenziale, die der Mensch hat und die er entwickeln und umsetzen kann. Jede Person hat etwa 21.000 Gene, und ja, sie spielen eine Rolle. Der Mensch ist aber nicht auf seine Gene reduzierbar. Grundsätzlich ist es aufgrund vieler Faktoren so, dass der Mensch in sich eher eine Verzerrung hin zum Schlechten trägt. Das ist einerseits evolutionär bedingt, aber auch situationsabhängig. Wenn es zum Beispiel im Flugzeug zu ruckeln beginnt, denken wir nicht, dass das Flugzeug eines der sichersten Verkehrsmittel der Welt ist. Wenn alles reibungslos abläuft, nehmen wir das hingegen als gegeben hin. Ein ähnliches Phänomen ist im medialen Kontext zu erkennen. Daher ist es wichtig, zu selektieren und bewusst darüber nachzudenken.
Wenn ein Unternehmen immer nur auf Altbewährtes setzt, kann es gut sein, dass durch eine einzige disruptive Innovation sein bisheriges Geschäftsmodell ins Wanken kommt.
Angst kann eine Bremse sein. Umso wichtiger ist, die Balance zwischen Angst und Mut zu finden. Damit Unternehmen vorwärtskommen, sollte jedoch der Mut etwas stärker ausgeprägt sein, oder?
Stimmt. Die Frage ist nur, wie kann das in der Praxis aussehen? Zum Beispiel durch ein gutes Verhältnis aus „Yes or yes“-Projekten, die sich vielleicht eher um Altbewährtes drehen, und neuen, innovativen „Yes or no“-Projekten, die ein Zukunftstreiber sein können. Wenn ein Unternehmen immer nur auf Altbewährtes setzt, kann es gut sein, dass durch eine einzige disruptive Innovation sein bisheriges Geschäftsmodell ins Wanken kommt. Auf der anderen Seite: Wenn man nur Risiko fährt, kann einem sehr schnell die Kraft oder das Geld ausgehen. Daher ist es sinnvoll, auf ein gutes Verhältnis zu setzen und dieses immer wieder aufs Neue anzupassen. Denn einmal muss ich mehr riskieren, einmal weniger.
Um Innovation voranzutreiben, braucht es auch eine gewisse Lösungsbegabung. Ist diese erlernbar?
Ja, man muss sie durch Wissenserwerb und Üben entwickeln, und umso früher man damit beginnt, desto besser. Keine Frage, Fachwissen ist unverzichtbar, führt aber alleine in der Gesellschaft und in Unternehmen nicht zu Innovationen. Eine aktive Lösungsbegabung ist von großer Bedeutung. Und da müssen wir uns an der Nase nehmen, weil wir der nächsten Generation den Lösungsprozess allzu oft einfach abnehmen.
Was braucht es in Zukunft ganz besonders?
Für nächste Generationen wird das „ungerichtete Wissen“ immer relevanter werden, um Innovationen voranzutreiben. Für die Entfaltung der Lösungsbegabung braucht es neben Fachwissen auch ungerichtete Kompetenzen, wie etwa kreatives und kritisches Denken, soziale Kompetenzen, Resilienz oder Ethik. Und wir müssen Schnittflächen bilden, wo Menschen mit verschiedenen Fachwissen, verschiedenen Hintergründen etc. zusammenkommen. Gemeinsam generieren sie Ideen, auf die jeder für sich vielleicht nicht kommen würde. Denn kreative Prozesse finden vor allem an Schnittstellen statt, wo zwei oder mehr Disziplinen aufeinandertreffen. Jeder kann sich selbst fragen, wie viele solcher Schnittstellen man pflegt. Ich glaube, dass es hier in Österreich noch Luft nach oben gibt.
Wie können Schnittstellen im Unternehmen aussehen?
In jedem Unternehmen gibt es viele unterschiedliche Menschen, die gemeinsam nachdenken sollten. Und es gibt die blauäugigen Optimisten, die sagen: „Das ist sich immer ausgegangen, das wird sich auch dieses Mal ausgehen. Auch ohne meinen Beitrag. Die anderen werden das schon machen.“ Die zweite Gruppe sind die eingefleischten Pessimisten, die sagen, dass es sich nicht mehr ausgeht und ihr Beitrag auch nichts mehr dran ändert. Um als Unternehmen erfolgreich zu sein, müssen aber möglichst viele die Gruppe der Ermöglicher bilden, denen klar ist, dass es nicht einfach wird, aber ihr Beitrag den Unterschied ausmachen kann. Diese Gruppe der „Possibilisten“ gehört gestärkt, damit neue Lösungen entstehen können. Und in der Wissenschaft gibt es zum Beispiel auch den Begriff der „Serendipität“. Das bedeutet, dass man Dinge finden kann, nach denen man gar nicht gesucht hat. Auf diese Weise entdeckte man zum Beispiel auch die Röntgenstrahlen oder das Penizillin. Entscheidend dafür ist, in Bewegung zu bleiben und auch ein zweites Mal hinzuschauen. So entsteht Neues.
Das ganze Interview finden Sie auch am Webinar-Channel des KSV1870.
Kurz notiert: Markus Hengstschläger ist gebürtiger Linzer und studierte Genetik. Er forschte an der Yale University in den USA und ist heute Vorstand des Instituts für Medizinische Genetik an der MedUni Wien. Zudem leitet er den Thinktank Academia Superior. Sein aktuelles Buch „Die Lösungsbegabung“ regt zum Nachdenken an und erklärt die Bedeutung der „Ermöglicher“.